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Albrecht Maurer

9. Mai in Russland: Friedensfeste des „Unsterblichen Regiments“

Längst haben sie der Militärparade in den Augen der Bevölkerung den Rang als Großereignis am 9. Mai abgelaufen: die Demonstrationen des „Unsterblichen Regiments“ direkt im Anschluss an die Militärparade auf dem Roten Platz mit anschließenden Festen in den Moskauer Parks. Während das Wetter schon mal den Abbruch der Flugparade der Militärjets erzwingen kann wie 2017, sind die 700.000 bis 900.000 Menschen durch mieses Wetter nicht aufzuhalten. Überwiegend Familien, immer weniger Veteranen, viele in Rollstühlen, demonstrieren in Zivil stundenlang in bester Stimmung durch die Stadt, auf Schildern die Porträts ihrer Angehörigen, die in der Roten Armee gekämpft haben. Dasselbe in kleinerem Umfang in Sankt Petersburg und anderen Städten.

Eine private Initiative stand 2012 am Anfang dieser Märsche des „Unsterblichen Regiments“. Das Gedenken an die Menschen, die in der Roten Armee gekämpft und den entscheidenden Beitrag zur Niederlage des Faschismus geleistet hatten, sollte wachgehalten werden. Angehörige gedachten mit Porträts weitab in der Provinz der Gefallenen und Ermordeten sowie derer, die überlebt haben, jetzt aber als Zeitzeugen nicht mehr lange zur Verfügung stehen.

Jahr für Jahr beteiligten sich auch in Moskau immer mehr Menschen an den Märschen. Immer mehr Städte kamen dazu. Die Demonstration entwickelten sich zu einer zivilen Alternative zu den protzigen Militärparaden. Sie tragen das kollektive Gedenken auf die Straße, das Erinnern an den von den Nazis inszenierten Vernichtungskrieg, dessen Folgen kaum eine Familie in der Sowjetunion verschonten und sein für die Rote Armee und Europa siegreiches Ende.

Dieses allgegenwärtige Gedenken an die barbarischen Folgen eines barbarischen Krieges in der russländischen Bevölkerung und die wachsende Beteiligung sind es, die Anstrengungen der „Macht“ und des Kommerzes auf den Plan gerufen haben, um  es in das Korsett staatlicher Erinnerungspolitik zu zwängen. Anstrengungen wie sie keineswegs nur russlandspezifisch sind, wie alle Auseinandersetzungen um Geschichts- und Erinnerungspolitik von Deutschland über Polen bis Frankreich und Spanien zeigen.

Spätestens seit Präsident Putin 2015 erstmals an der Spitze der Demonstration lief, werden die Märsche zentral organisiert. Eine lange vor dem 9. Mai beginnende Werbekampagne mit den entsprechenden Insignien und Devotionalien – bereitet diese große nationale Aktion vor – von Käppis und St. Georg-Bändern, die auf der Straße, in Geschäften, überall verkauft werden, Fahnen ohne Ende und Schokoladenwaffen über Nachbildungen von Waffen und Uniformen für Kinder in den Supermärkten.

Deutschland sollte historische Leistung der Roten Armee würdigen

Das alles kann aber nichts daran ändern, dass dieses große Familien- und Veteranentreffen ein riesiges, ziviles und fröhliches Friedensfest ist.

Vor allem deutsche Kommentator*innen sollten für diesen einen Moment im Jahr ihre Häme vergessen und ihre Haltung, mit denen sie diese Millionen Menschen mit den Bildern ihrer Angehörigen und vielfach mit Armeekäppi oder Fahne ihrem Publikum als willenlose Gefolgschaft staatlicher Mythenbildung präsentieren. Es wäre eine kleine medienpolitische Revolution, wenn sie in Berichten wie dem folgenden einfach den letzten Satzteil wegließen: 

„Während der deutsche Raub- und Vernichtungsfeldzug in der Erinnerung der Bundesrepublik nicht einmal mit einem Gedenktag präsent ist, ist er in Russland allgegenwärtig – wenngleich überwiegend in der Form von Staats wegen gepflegter Mythen“ (Julian Hans, SZ 12.03.2017).

Sie träfen damit die Stimmung nicht nur der Demonstrant*innen in Russland, sondern kämen den Problemen der Geschichte bedeutend näher. Die Abwesenheit deutscher Repräsentant*innen an diesem Feiertag wird mit Enttäuschung und Unverständnis registriert, ganz besonders, wenn es ein runder Jahrestag ist, wie der 75. Der Corona-Virus verhinderte, dass NATO-Soldaten im 75. Jahr nach der Befreiung vom Faschismus an den russischen Grenzen stehen, eben nicht die deutsche Regierung, die sich einem solchen Affront aus historischem Bewusstsein verweigert hätte.

Eine fatale Tradition deutscher Politik zeigt sich hier, die bereits am 10. Jahrestag der Befreiung von Adenauer mit dem offiziellen Beitritt der neuen Bundesrepublik Deutschland zur NATO am 9. Mai 1955 zementiert wurde. Und trotzdem, ein bisschen mehr Flexibilität abseits außenpolitischer Sonntags- und Gedenkreden hätte man sich doch als praktische Geste der Versöhnung und des Friedens in diesem Jahr gewünscht. Auch das gab es ja schon mal.

Anmerkung: Nach derzeitigem Stand ist es sehr wahrscheinlich, dass der Marsch dieses Jahr wegen Corona nicht stattfinden kann.

Albrecht Maurer
Strausberg / zurzeit Moskau